Unser Haus gehört zu einer Gruppe von Wohnhäusern, die Anfang der 1970er Jahre von Otto Steidle zusammen mit Ralph und Doris Thut experimentell entwickelt und gebaut wurden. Mehrfach prämiert sind sie längst in die Architekturgeschichte der Nachkriegsmoderne eingegangen. Bis heute sind sie vorbildlich für Architekturen, die von ihren Bewohnern je nach Bedürfnis mit sparsamen Mitteln um und ausgebaut werden können.
Baumgleich setzen die Betonstützen mit ihren allseits auskragenden Konsolen den Rahmen, der die Möglichkeit des Weiterbauens bereits anzeigt. Je nachdem in welcher Höhe die Träger aufliegen, ergeben sich versetzte Bühnen, die ein-, eineinhalb- oder zweigeschossige Räume erlauben. Je nachdem in welcher Ebene die Pfosten-Riegel-Fassade sitzt, bilden sich Erker, Loggien, Terrassen. Im vielgliedrigen Fachwerk wechseln Glasflächen mit farbigen Paneelen, die für den nötigen Sichtschutz sorgen. Ansonsten bedingt die gläserne Architektur ein lichtdurchflutetes Wohnen mitten im Grünen.
Die Außentreppen schlagen Brücken zu den höher liegenden Eingängen, bauen Zwischen-Verbindungen und schaffen – wie bei unserem Haus – die Voraussetzung für die Trennung von Wohneinheiten.
In den fünfzig Jahren Ihres Bestehens haben die „living structures“ von Otto Steidle bewiesen, dass sie sich verschiedensten Lebenskonstellationen anpassen können, ohne den Charakter zu verlieren. Der robuste Skelettbau hat uns zum Beispiel ermöglicht, Redaktionsbüro und Familienleben zu vereinbaren. Nach dem letzten Umbau sind zwei getrennte Einheiten entstanden: Oben eine Wohnung mit Dachterrasse für Sohn, Schwiegertochter und Enkel; unten ein großzügiges Appartement mit Terrasse und Garten, die ich ursprünglich als Senior alleine bewohnen wollte, bis ich meine neue Frau traf…. Seitdem auf dem Land lebend, vermiete ich meine Münchner Wohnung periodisch für ein bis zwei Semester an Gastdozenten.
Die ersten Gebäude in der Gruppe an der Genter-Straße gehören inzwischen zu den jüngsten Baudenkmalen der Stadt München und stehen für die Aufbruchstimmung, die im Vorfeld der Olympischen Spiele 1972 geherrscht hat.
weiterführende Literatur:
Otto Steidle, Bewohnbare Bauten / Structures for Living. Herausgegeben von Florian Kossak. Zürich, München, London: Artemis Verlag AG, 1994.
Ernst et al., Otto Steidle – Land, Stadt, Haus. Anlässlich der Ausstellung \”Otto Steidle – Land, Stadt, Haus\” im Architekturmuseum der Technischen Universität München in der Pinakothek der Moderne vom 20. November 2003 bis 15. Februar 2004. Salzburg, München: Pustet Verlag, 2004.